Erstellt am: 30.10.2021 21:03
Von: Pfr. Tobias Weimer, Matthäuskirche Backnang


Brille für Gott

Eine Korrektur an meiner verzerrten Wahrnehmung


„Ich sehe alles noch ganz verzerrt“, hat mir ein Bekannter erzählt. Er hatte einige Jahre keine passende Brille für die Hornhautverkrümmung auf. Deshalb hat sein Gehirn die verzerrte Wahrnehmung der Augen korrigiert. Das ist aber anstrengend, oft hatte er deswegen Kopfschmerzen.

Mit neuer Brille, musste sein Gehirn erst mal wieder kapieren, dass diese Korrektur jetzt die Brille übernimmt. Bis dahin hatten Brille und Gehirn doppelt korrigiert und deswegen hatte er alles verzerrt wahrgenommen. Inzwischen sieht er alles wieder unverzerrt und er hat viel seltener Kopfschmerzen.

Auch bei der Frage nach Gott können sich mit der Zeit verzerrte Wahrnehmungen einschleichen. Wenn wir sozusagen nicht die richtige Brille aufhaben. Und sich der Gedanke festsetzt: „Ich muss alles ‚richtig‘ machen, damit Gott mich mag.“ Ich finde, das ist ein toxischer Gedanke. Denn wer kann schon immer alles richtig machen? Dieser Gedanke kann das ganze Leben vergiften. Quasi zu „Seelenschmerzen“ führen. Um solche toxischen Gedanken über Gott wieder abzulegen, braucht es eine passende Brille. Eine, die meine Wahrnehmung von Gott korrigiert.

Einer, der das selbst durchlebt hat, war Martin Luther. Er ist fast durchgedreht. Er hat die Bibel so gelesen, dass er genau das geglaubt hat: „Ich muss alles richtig machen, sonst mag Gott mich nicht.“ Also hat er versucht ganz so zu leben, wie er dachte, dass Gott es will – und er hat es nicht geschafft. Er hat sich deswegen enorme Sorgen gemacht wegen seines Seelenheils. Seelenschmerzen eben.

Irgendwann hat er gemerkt: „Ich kann die Bibel auch anders lesen. Nicht ich muss alles richtig machen. Gott macht mich richtig!“ Das hat sein Leben verändert. Denn dieser Gedanke ist bei ihm in Kopf und Herz angekommen. So hat er den alten toxischen Gedanken, die verzerrte Wahrnehmung von Gott, verdrängt. Und damit auch seine Seelenschmerzen. Durch seine neue Art, von Gott zu denken, ist sein Leben leichter geworden.

Luthers Entdeckung ist wie eine Brille für Gott. Sie korrigiert eine verzerrte Wahrnehmung. Genau das feiern viele Christinnen und Christen morgen am Reformationstag: „Ich muss nicht alles richtig machen. Gott macht mich richtig!“

Pfr. Tobias Weimer, Matthäuskirche Backnang


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