Verborgenes Kleinod - Der Ölberg-Schrein in Murrhardt

Die neue Treppe führt steil den Hang hinauf. Immer wieder verweile ich und schaue hinauf. Die Umrisse der Kirche oben auf dem Berg sind von hier kaum noch zu erkennen. Neben der Treppe sind noch ein paar alte Stufen sichtbar, die über viele Jahrhunderte hier den Hang hinauf führten. Oben auf dem Hügel, auf dem jetzt die Walterichskirche steht, stand einst ein römischer Tempel, die Treppe gab es vielleicht damals schon. Im Mittelalter pilgerten die Menschen hinauf zur Kirche und sie taten es auch noch in späteren Zeiten. In den 50er Jahren wurde die alte Treppe entfernt. Doch die Menschen nahmen den Weg rund um den Berg hinauf zum Friedhof - und der Kirche.

Auch ich bin nun oben angekommen. Der Weg führt um die Kirche herum, der Blick fällt hinab auf die Stadt und die große Klosterkirche. Eine alte Friedhofslaterne, ein gusseisernes Kreuz, der Ruheort der Verstorbenen rund um die Kirche. Eine eigenartige Atmosphäre überkommt mich hier. Zeit und Ewigkeit, Ruhe all den Menschen, die hier oben liegen, eine andere Welt. Und zu all dem gehört der große Schrein, den ich nun geöffnet vor mir sehe. Er ist viel größer als ich ihn in Erinnerung habe. Vor vielen Jahren habe ich ihn zum letzten Mal offen gesehen. Nur in der Karwoche ist er geöffnet von Karfreitag bis Ostersonntag. Den Rest des Jahres verbirgt er seine Schätze hinter seinen schweren Flügeln und einem Schloss.

Doch heute ist der Ölberg offen. Er nimmt uns mit hinein in das Geschehen an Jesu letztem Abend. Flehend kniet er unter einem Ölbaum im Garten, sein Blick nach oben gewandt, die Hände flehend zum Himmel gerichtet: "Vater, wenn es möglich ist, lass diesen Kelch an mir vorüber gehen". Doch die Häscher sind schon da und ein Engel hält den goldenen Kelch, den er doch trinken muss, schon in der Hand. Es ist ein Kelch, wie wir ihn beim Abendmahl gereicht bekommen. Die Szene nimmt die ganze linke Seite des des plastischen Bildes ein. Mir fällt die ungemeine Farbigkeit des Bildstockes auf. Die Figuren wirken naiv und fast übertrieben. Der verzerrten Gesichter der Soldaten und die turbulenten Szenen bei seiner Verhaftung, seinem Prozess vor Pilatus und seiner Geißelung auf den Flügeltafeln des Ölbergschreins sind wie eine Szene aus einem Schauspiel, eine Bibel für die einfachen Menschen, die nicht lesen und schreiben konnten. In den Gesichtern der dargestellten Figuren erkenne ich sie wieder, einfache Menschen mit ihrem einfachen Glauben mitten in einem geheimnisvollen Geschehen, das sie nicht verstehen, wie die Jünger Jesu, Petrus und Johannes, die schlafend im Garten liegen. Und selbst Pilatus (rechts im Relief auf der Seitentafel) wäscht seine Hände in Unschuld aus einer goldenen Kanne mit glasklarem Wasser. Versteht er, was hier geschieht?

Die dargestellte Szene an der Walterichskirche ist nicht einmalig. Sie findet sich gerne auf mittelalterlichen Friedhöfen wieder. Wir finden sie auch dort neben der Laterne und einem Beinhaus und den Gräbern rund um das Heiligtum einer uralten Kirche. Einmalig an der Darstellung in Murrhardt ist ihre Lebendigkeit und die Farben, die sich hinter den schweren Flügeln über die Jahrhunderte erhalten haben. Um 1525 wird der Schrein im Auftrag einer Sebastiansbruderschaft gestiftet, die sich um die Bestattung der Toten kümmert. Sebastian ist einer der ersten Märtyrer des Christentums und verbunden mit einem der bekanntesten Katakomben Roms, ein Ort des Friedens für die friedlosen Opfer der Verfolgung. Der Meister des Kunstwerks ist wohl ein Spätwerk des selben Künstlers, der auch den Ölberg von Bönnigheim geschnitzt hat (Die Kunstdenkmäler des Rems-Murr-Kreises, Adolf Schahl (Hg.), 1983, Band 1, S. 634). Ob die Farben wirklich so intensiv waren oder bei seiner Restaurierung im Jahre 1865 im Geschmack der Zeit stark aufgefrischt wurden, lässt sich heute nicht mehr klären. Der Bericht der damaligen Arbeiten betont jedoch, die ursprüngliche Farbigkeit des Kunstwerkes erhalten zu haben.

Ich mache noch einige Fotos. Schließlich ist morgen der Schrein wieder zu und wer weiß, wann ich ihn wieder sehe. Dann ziehe ich weiter um die Walterichkirche herum auf den Friedhof. Es ist Ostersonntag, Christus hat alles hinter sich gelassen und ist zum Leben erwacht. Wie die Menschen hier, die in Hoffnung auf ihn gestorben sind.

Achim Fürniss, Backnang 2021

(zuerst veröffentlich auf www.kaleidoskop-journal.de) (Allle Rechte beim Autor)